Die folgende Abendandacht durfte ich gestern Abend in der Elisabeth-Kapelle des Nikolaiturmes halten. Hier findet von Juni bis September an jedem Dienstag-Abend unter dem Leitwort „Geistliches Abendbrot“ um 19:30 Uhr eine Abendandacht statt.

Vor kurzem hatte ich einen Traum.

Am frühen Morgen kam ich in eine Stadt. Es war Winter, eisig kalt, ein leichter Schnee lag um den Bahnhof.

Etwas Befremdliches fiel mir sofort auf. Aber ich wagte zunächst nichts zu sagen. Die Gepäckträger und der Stationsvorsteher waren warm angezogen – schwere Mäntel und dicke Handschuhe – aber: Schuhe trugen sie nicht.

Merkwürdig, dachte ich bei mir. Ich erkundigte mich nach meinem Hotel und stieg in die Straßenbahn. Da sah ich es wieder: Niemand trug Schuhe. Auch im Hotel der Portier und der Liftboy – beide barfuß!

Nun wurde ich neugierig und fragte: „Warum trägt niemand in dieser Stadt Schuhe?“

„Ach ja“, sagte der Hotelier, „warum eigentlich nicht – das frage ich mich auch.“

„Glaubt Ihr denn nicht an Schuhe?“, fragte ich? „An Schuhe glauben!“, antwortete er leicht verärgert. „Selbstverständlich glauben wir an Schuhe. Das ist der erste Artikel unseres Glaubensbekenntnisses. ‚Ich glaube an Schuhe’, heißt er. Und jedes Kind lernt das auswendig und weiß, dass Schuhe unentbehrlich sind! Ohne Schuhe kommt niemand aus. Die Füße werden erfrieren, sie werden verletzt. Ohne Schuhe wäre das ganze Leben unerträglich!“

Ich war verwirrt: „Ja, warum aber tragt ihr denn dann keine Schuhe?“ fragte ich. „Ach“, sagte er etwas wehmütig, „das ist es eben – warum tun wir es eigentlich nicht?“

Ich sah, dass es keinen Sinn hatte, weiter mit ihm zu reden. Ich ging in mein Zimmer, machte mich frisch und ging danach ins Hotel-Restaurant. An meinem Tisch saß ein vornehmer Herr, der – wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger der Stadt – keine Schuhe anhatte.

Wir kamen ins Gespräch, und er bot mir an, eine kleine Stadtführung zu machen. Wir tragen aus dem Hotel. Gegenüber lag ein riesengroßes Backstein-Gebäude. Er zeigte voller Stolz darauf und sagte: „Das ist eines unserer schönsten und berühmtesten Schuhhäuser.“

„Ach“, sagte ich, „werden da Schuhe gemacht?“

„Na ja“, sagte er etwas verlegen, „das nun nicht. Aber wir reden dort über Schuhe, und der Leiter ist ein sehr begabter Schuhanpreiser. Jede Woche redet er über Schuhe und warum man sie tragen soll. – Neulich erst hat er einen so ausgezeichneten Vortrag über Schuhe gehalten, dass die Leute zu Tränen gerührt waren. Es war ergreifend. Ich muss wirklich sagen: Ergreifend!“

„Aber warum tragen sie dann alle keine Schuhe?“, frage ich noch einmal. „Ach ja“, sagte er, „warum? Das ist es eben.“ Und er lächelte etwas verlegen.

Gerade in diesem Moment bogen wir in eine kleine Gasse ein, und ich sah im Keller eines Hauses einen alten Mann, der Schuhe machte. Ich entschuldigte mich einen Moment, lief in den kleinen Laden und frage den Inhaber, wie das kam, dass niemand Schuhe bei ihm kaufte.

„Niemand möchte hier Schuhe tragen“, antwortete er. „Sie reden nur davon.“

Ich kaufte schnell etliche Paare und ging wieder hinaus zu meinem Bekannten. „Hier“, sagte ich, „hier haben Sie Schuhe! Ziehen Sie sie gleich an! Sie werden nie wieder ohne sie gehen wollen!“

Er schaute mich überrascht, ja schon fast entsetzt an: „Danke schön“. sagte er. „Vielen Dank. Aber Sie verstehen uns nicht. Und die Leute werden es nicht verstehen. Wissen Sie: Das tut man hier eben nicht.“
„Ja aber warum den nicht???“, rief ich. „Warum um Himmels willen tut man das denn nicht?“

„Ach“, antwortete er mit dem gleichen verlegenen Lächeln wie vorher. „Ach ja, warum? Das ist es eben: Warum tun wir es nicht?“

Da erwachte ich. Und nicht mehr da, aber hier. Aber immer wieder und wieder höre ich diese Frage: „Warum tun wir es nicht? Warum tun wir es nicht? Warum tun wir es nicht?“

Noch eine Anmerkung: Ausnahmsweise ist der Text diesmal nicht originär von mir, sondern von Hugh Prince Hughes. Aber er ist so wunderbar und fesselnd, dass ich ihm eine möglichst große Verbreitung wünsche.